Petros
Orthodoxie

Das Kreuzzeichen und der Kuss auf die Ikone

Sie haben es gewiss schon oft erlebt: Wenn orthodoxe Christen eine Kirche betreten, dann zünden sie zuerst eine Kerze an. Diese Kerze sagt: Ich bin da in diesem heiligen Raum, ich mit all meinen Sehnsüchten und Lasten, mit meiner Erdenschwere und meiner Hoffnung auf Gottes Erbarmen, und auch mit meinen Fürbitten für so viele Menschen, die ich liebe. Dann bekreuzigen sie sich: Sie stellen sich selber mit ihrem ganzen Leben unter das Kreuz Jesu Christi. So wie sie bei der Taufe zum ersten Mal unter den Schutz des Kreuzes gestellt wurden, so tun sie es nun selbst ihr Leben lang. Und dann gehen sie zu einer Ikone oder auch zu mehreren und küssen sie. Das mag für uns auf den ersten Blick befremdlich sein. Wie kann man ein Bild küssen? Aber für orthodoxe Christen ist eine Ikone kein "Bild": Eine Ikone ist geheimnisvolle Gegenwart dessen, was darauf gemalt ist. Wenn ich eine Marien-Ikone küsse, dann küsse ich auf geheimnisvolle Weise Maria selbst.

Verleihe, o Herr, dass die Ohren, die deinen Lobpreis gehört haben,
verschlossen seien für die Stimme des Streites und Unfriedens,
dass die Augen, die deine große Liebe gesehen haben,
auch deine selige Hoffnung schauen,
dass die Zungen, die dein Lob gesungen haben, hinfort die Wahrheit bezeugen,
dass die Füße, die in deinen Vorhöfen gestanden sind,
hinfort gehen auf den Wegen des Lichts
und dass die Leiber, die an deinem lebendigen Leib Anteil gehabt haben,
hinfort in einem neuen Leben wandeln.

(Aus einem alten orthodoxen Gebet am Ende der Liturgie)

Text von Pfarrerin Dr. Christine Friebe-Baron
Herausgegeben von der evangelischen Gemeinde deutscher Sprache auf Rhodos

Viele Menschen haben ein Vorbild, einen Menschen, von dem sie gelernt haben, was im Leben wirklich wichtig ist und wie zu leben sich lohnt. Manche haben berühmte Vorbilder, Albert Schweitzer oder Martin Luther King oder Mutter Theresa; manche haben in ihrem persönlichen Lebensumfeld ein Vorbild entdeckt: die Großmutter, einen Nachbarn, jemanden aus längst vergangener Zeit, den kaum jemand kennt. Stellen Sie sich vor, es gäbe einen Raum, in dem sie diesem Menschen gegenübertreten, ihm begegnen könnten. Würden Sie nicht auf ihn zugehen, ihn umarmen, Ihre Liebe und Ehrfurcht ausdrücken, und, wenn es denn erlaubt ist, ihn küssen?

In der Ikone ist für einen orthodoxen Christen gegenwärtig, was gemalt ist, und darum ist Ikonenmalen ein heiliges Geschehen, und der Künstler ist mehr ein Mystiker denn ein Maler. Die Ikonostase, die in jeder orthodoxen Kirche zu finden ist, ist keine Trennwand, die zwischen den Gläubigen und dem Abendmahlstisch steht, sondern geheimnisvolle Gegenwart des Himmels: Christus selbst und Maria, alle Engel, die Apostel, die Namenspatrone der Kirche, ja, alle die uns im Glauben vorangegangen sind, sie sind nahe in den Ikonen und nicht nur im frommen Gedenken der Gläubigen, sie lassen sich gar berühren, küssen.

Einen Augenblick lang bin ich an der Schwelle des Paradieses, bin ich da, wo Himmel und Erde sich berühren. Und ich kann auch meine Bitten, mein Leid an die Schwelle des Himmels bringen, ganz nah an die ewige Barmherzigkeit.